Keine Krebsvorsorge wegen Missbrauchs:

Schwer kranker Betroffener will eine Million Euro von der Kirche.

RND 06.02.2024

Die Kirchen sehen sich immer höheren Entschädigungsforderungen von Missbrauchsbetroffenen gegenüber. 2023 erstritt ein 62-Jähriger gegen das Erzbistum Köln ein Schmerzensgeld von 300.000 Euro. Andere Bistümer berufen sich auf Verjährung der Taten. Sie könnten auch anders.

Thoralf Cleven
06.02.2024, 17:00 Uhr

Berlin. Norbert Denef ist einer der ersten Betroffenen, die ihren Missbrauch durch katholische Geistliche öffentlich gemacht hat. Das war 1994.

2005 ist der heute 74-Jährige der Erste, der als Missbrauchsbetroffener eine Entschädigung durch seine Kirche durchsetzen konnte. 25.000 Euro erhielt er vom Bistum Magdeburg für den Missbrauch durch einen Priester und einen Organisten im heimatlichen Delitzsch. Die wöchentlichen Übergriffe hatten begonnen, als Denef zehn Jahre alt und Messdiener war. Sie endeten mit seiner Flucht aus Delitzsch als 18-Jähriger.

Erst als er die 40 überschritten hatte, konnte Denef – Vater von zwei Kindern – sein Schweigen brechen. Er redete 1993 in seiner Herkunftsfamilie erstmals über den Missbrauch und sein Leid, im Beisein der Täter. Strafrechtlich waren die Taten verjährt. Der Priester starb unbehelligt, der Organist blieb es.

Von der Familie verstoßen

Für sein Reden wurde Denef von seiner Familie verstoßen. Bis heute sprechen seine Geschwister weder mit ihm noch mit seiner Frau oder den erwachsenen Kindern. „Diese Ausgrenzung tut weh“, schildert Denef, der inzwischen in Scharbeutz an der Ostsee wohnt, seine Gefühle.

Er erlebt weitere Ausgrenzung in der Kirche. Er fordert 450.000 Euro für Arztbesuche, Therapien, gesundheitliche Schäden. Das Bistum bot ihm zunächst Schweigegeld an. Als Denef sich 2003 beim Papst über diesen Umgang beklagte, schrieb Johannes Paul II. ein halbes Jahr später, er bete für ihn, dass er vergeben könne.

Spätestens 2010 begann eine breite Öffentlichkeit zu begreifen, dass Fälle wie der von Norbert Denef keine Einzelfälle sind. Damals machte Pater Klaus Mertes als Rektor des Berliner jesuitischen Canisius-Kollegs den Missbrauch an seiner Schule bekannt. Hier und anderswo meldeten sich weitere Opfer. Es sind Tausende in beiden christlichen Kirchen. Die wenigsten Täter sind verurteilt worden.

Viele Missbrauchstaten sind verjährt

Das Problem: Viele Taten sind strafrechtlich längst verjährt. Im Strafrecht gelten für die Verjährung von Straftaten aus dem Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen Verjährungsfristen zwischen fünf und dreißig Jahren.

In den meisten Fällen verjährt die Tat jedoch zwischen zehn oder 20 Jahren. Zivilrechtliche Schadensersatzansprüche wegen vorsätzlicher Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung verjähren nach 30 Jahren. Viele Betroffene können jedoch erst nach Jahrzehnten – wie Norbert Denef – über das erlittene Leid sprechen.

Unabhängig davon hat die katholische Kirche in den Jahren 2021 und 2022 rund 40 Millionen Euro an Opfer sexualisierter Gewalt ausbezahlt. Diese Zahlungen beruhen allein auf Plausibilitätsprüfungen – ohne Gerichtsverfahren. Für 2023 sollen die Zahlen in Kürze durch die die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA)veröffentlicht werden. Denef erhielt im vergangenen Jahr von der UKA gemäß der „Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids“ 30.000 Euro.

„Letztlich schützt die Politik die Kirchen, indem sie nichts an den Verjährungsfristen ändert.“

Norbert Denef, konnte wie viele Betroffene erst nach Jahrzehnten über das erlittene Leid sprechen.

Denef kämpft schon lange gegen die Verjährungsfristen. Vergebens, wie er findet.

Norbert Denef – Verjährungsfristen aufheben – SPD Bundesparteitag 2011

„Letztlich schützt die Politik die Kirchen, indem sie nichts an den Verjährungsfristen ändert.“

Nun führt er, wie Denef sagt, seine letzte Schlacht. 

Der schwer an fortgeschrittenem Darmkrebs erkrankte Mann kann aufgrund seiner Einschränkungen nach Notoperationen und Komplikationen kaum noch aus dem Haus. Seine Frau, die ihn seit Jahren pflegte, ist nun selbst an Parkinson erkrankt und ein Pflegefall. Nun kümmert sich die Tochter um ihre Eltern.

Keine Krebsvorsorge möglich

Denef strebt eine Schmerzensgeldklage in Höhe von einer Million Euro gegen das Bistum Magdeburg an. Seine Begründung: Aufgrund seiner Missbrauchserfahrungen habe er die notwendigen Krebsvorsorgeuntersuchungen nicht durchführen lassen können. Sein behandelnder Arzt bestätigte dies bereits 2018. Er schrieb in einem Attest von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Krebs hätte mit „sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ frühzeitig erkannt und verhindert werden können.

(Norbert Denef, der Anfang der 1960er-Jahre von einem Pfarrer in Delitzsch missbraucht worden war, und seine Frau Veronika. Beide sind auf Pflege angewiesen. © Quelle: LN)

Bestätigt wird dies in einer bereits sechs Jahre zurückliegenden dänischen Registerstudie von der Universität in Odense. Danach haben psychisch Kranke bei der Darmkrebsdiagnose oft schon fortgeschrittene Tumore und damit eine schlechtere Prognose. Sexuell traumatisierte Menschen, schreibt Denefs Anwalt Thomas Klaus an das Bistum, lehnen häufig körpernahe, ärztliche Untersuchungen ab, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind.

Der Magdeburger Bischof Gerhard Feige schreibt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) auf Anfrage: „Es tut mir persönlich unendlich leid, was dieser Mann durchlitten hat und mit welcher Last er sein Leben lebt. Inwiefern aber ein Zusammenhang zwischen seiner späteren Erkrankung und den aufgrund von Missbrauchserfahrungen abgelehnten Vorsorgeuntersuchungen besteht, kann ich nicht beurteilen.“

Bistum will sich auf Verjährung stützen

Einen weiteren außergerichtlichen Vergleich schließt das Bistum aus, so Feige gegenüber dem RND. Man ginge davon aus, dass mit der Regelung 2005 „Rechtsfrieden geschlossen“ worden wäre. „Herr D.“, schreibt der Bischof, „war damals anwaltlich vertreten und hat sich zudem verpflichtet, keinerlei Ansprüche mehr gegen das Bistum oder sonstige kirchliche Stellen zu richten.“

„Eine erneute Forderung auf Schadensersatz bewegt sich nicht mehr im Rahmen des bisherigen niederschwelligen – lediglich auf Plausibilität beruhenden – Verfahrens zur Anerkennung des Leids und müsste darum im Zweifelsfall wie auch in Köln vor Gericht geklärt werden“, erklärt der Bischof. Zuvor hatte sein Generalvikar Bernhard Scholz Denefs Anwalt im Januar mitgeteilt: „Sollte es zu einem Gerichtsverfahren kommen, wird sich das Bistum Magdeburg auf die Einrede der Verjährung berufen.“

„Ich bin aber noch da, und ich werde kämpfen.“
(Norbert Denef, Missbrauchsbetroffener)

Beide Aussagen widersprechen sich. Denn ein Gericht könnte die Ansprüche Denefs nur klären, wenn die Kirche die Verjährung der Straftat nicht geltend machen würde.

Der Mann aus Scharbeutz sagt, er wolle keinen Krieg mit der Kirche, er sei jemand, der auf Versöhnung aus ist. „Doch ich spüre seitens des Bistums wie früher das Verschleppen meines Anliegens und völliges Unverständnis meiner Situation. Ich bin aber noch da, und ich werde kämpfen.“

Dass es anders geht, bewies das Erzbistum Köln im vergangenen Jahr. Ein 62-jähriger Mann, der in den 1970er-Jahren als Messdiener viele Jahre lang von einem Priester sexuell missbraucht worden war, erstritt 2023 ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro. Die Kirche hatte zuvor entschieden, in dem Fall keine Verjährung geltend zu machen. Er hatte zuvor 25.000 Euro im Rahmen des Systems kirchlicher Zahlungen in Anerkennung des Leids erhalten.

Mehr als 40 Millionen Euro an Betroffene

Auch im Fall einer anderen Schmerzensgeldforderung in Höhe von 850.000 Euro entschied sich das Kölner Erzbistum Ende 2023, nicht die Verjährungskarte zu ziehen und so den Weg für eine juristische Klärung freizumachen. Das Bistum Aachen beruft sich hingegen in einem aktuellen Fall zwar auf die Verjährung, bietet jedoch ein gerichtliches Mediationsverfahren an.

„In einem zivilrechtlichen Schadensersatzprozess ist die Einrede der Verjährung vom zuständigen Gericht nicht von Amts wegen zu berücksichtigen, sondern nur dann, wenn sich der Schuldner auf die Einrede der Verjährung beruft“, erklärt ein Sprecher des Bundesministeriums der Justiz. „Somit kommt es bei einem zivilrechtlichen Schadensersatzprozess wegen sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich darauf an, ob die beklagte Diözese sich auf die Einrede der Verjährung beruft.“

Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, sagte dem RND: „Es ist ein positives Signal für Betroffene, wenn die Bistümer auf die Einrede der Verjährung verzichten. So kann umfassend identifiziert werden, welche Amtspflichtverletzungen in kirchlichen und staatlichen Institutionen Schadensersatzansprüche auslösen können. Dies stärkt über den jeweiligen Einzelfall hinaus Betroffenenrechte insgesamt.“

Matthias Katsch, Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, berichtet, dass sich viele Betroffene aufgrund des Kölner Urteils melden und nach Anwälten fragen würden. Andere zögern, weil sie alt und krank seien sowie die Anstrengung, die Gutachten und hohe Kosten im Falle einer Niederlage fürchteten. „Das Risiko“, sagt Katsch, „liegt klar bei den Betroffenen.“

Christian Roßmüller, Anwalt eines 49-Jährigen, der aktuell gegen das Bistum Hildesheim wegen der Vergewaltigung als Neunjähriger durch einen Priester auf Schmerzensgeld klagt, meint, die Verjährung des Falles, auf die sich die Kirche in einem Verfahren möglicherweise berufen will, greift hier nicht. „Eine Institution, die über so lange Zeit trickst, täuscht und verschleppt, kann sich nicht auf die Verjährung berufen.“

Quelle:

https://www.rnd.de

Kommentare

4 Antworten zu „Keine Krebsvorsorge wegen Missbrauchs:“

  1. Avatar von corrie wolters
    corrie wolters

    Lieber Norbert, es tut mir alles so Leid für dich und für alle die missbraucht wurden. Ich hab‘ nur meine lieben Grüssen nach euch alle……
    Corrie Wolters aus Almelo die Niederlanden.

  2. Avatar von Gail Raven
    Gail Raven

    Norbert Denef deckt die Salonfähigkeit des sexuellen Missbrauchs auf, verbringt sein Leben damit, mittelalterliche Gesetze anzupassen zu lassen, wagt den Kampf gegen die hartnäckige und täterschützende Justiz, kämpft für den Schutz von Kindern und macht ehemaligen Kindern Mut, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Ein Leben voller Kampf, trotz Krankheit, – für Gerechtigkeit.
    Alles für läppische 1 Mio. Wie ehrenwert. Und welche Schande für die Deutsche Justiz, dass sie ihm nicht das Doppelte anbietet für die Arbeit, die von der Justiz selber verrichtet werden müsste statt verhindert zu werden.

  3. […] Keine Krebsvorsorge wegen Missbrauchs: […]

  4. Avatar von Dr. Marcella Becker
    Dr. Marcella Becker

    Die Versehrungen durch sexualisierte Gewalt in der Kindheit sind ganz tiefe und haben eine Wirkung ein Leben lang. Die Darmkrebserkrankung Norbert Denef‘s, all die Schmerzen und das Leiden und die Beeinträchtigung der Lebensqualität ist so, dass auch eine Million Euro im Grunde immer noch eine läppische Summe ist.
    In einem Interview im Jahr 2006 hat Bischof Feige die erstrebte Schweigeklausel gegen Norbert Denef damit begründet, dass er nicht wolle, dass die Kirche als Ganzes wegen des Vergehens eines Einzelnen in Verruf geraten solle.
    In der Zwischenzeit mit zahllosen Fällen die seit 2010 an die Öffentlichkeit kamen, hat es sich erwiesen, dass sexualisierte Gewalt in der Katholischen Kirche (und anderen Organisationen) mitnichten ein Einzelfall ist, sondern eher ein inhärentes Problem.
    Wenn die Kirche es wagen würde, einfach einmal das zu tun was richtig ist, menschlich richtig und den Lehren der Kirche nach auch im christlichen Sinne richtig – dann wäre das ein Schritt dahin, endlich das Ausmaß der Verwüstung durch sexualisierte Gewalt gegen Kinder anzuerkennen.
    Die Kirche könnte ein Zeichen setzen, dass sie als Institution sich diesem Thema in seiner Gänze stellt.
    Dies könnte auch ein Zeichen sein für alle institutionellen Systeme, in denen Kinder Gewalt ausgesetzt sind und waren (Heime, Kindergärten, Sportvereine, Schulen….) sich neu aufzustellen mit dem Ziel Kinder zu schützen.
    Wenn die Kirche wieder einmal diese Chance verpasst, kann man nur weiterhin dazu aufrufen, dass man ein solches sinkendes Schiff doch besser verlassen möge.

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