Tausende Männer und Frauen sind im Kindes- oder Jugendalter von Klerikern sexuell missbraucht worden. Die Kirchen haben für Entschädigungen intransparente Ausgleichssysteme geschaffen. Pflegende Angehörige von Betroffenen sind hierbei nicht berücksichtigt. Einer Lübeckerin platzte nun der Kragen.
11.09.2024, 14:00 Uhr
RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND)
Berlin. Kristin Denef ist ein Feingeist. Die Musikerin unterrichtet seit 24 Jahren Kinder, Jugendliche und Erwachsene an ihrer eigenen Flötenschule in der Hansestadt Lübeck. Sie lehrt an der Städtischen Jugendmusikschule Kiel und gibt als Dozentin für Flötentechnik regelmäßig Kurse für Flötenorchester im norddeutschen Raum. Die 50‑Jährige spielt in der Lübecker Taschenoper und als Kammermusikerin.
Jetzt hat die Künstlerin einen verzweifelten Brief mit sehr drastischen Worten an den Magdeburger Bischof Gerhard Feige geschrieben. Darin ist zu lesen: „Herr Bischof Feige, ich bin es jetzt, die sich um die ‚Scheiße‘ kümmert, die Ihre Katholische Kirche verursacht hat!“ Was, fragt man sich, ist in die höfliche Frau gefahren?
Kristin Denef ist wie viele Tausende Menschen in der Bundesrepublik pflegende Angehörige. Dies bedeutet: weniger Freizeit, reduzierte Arbeitszeit, weniger Geld. Als Selbstständige fürchtet sie, in die Altersarmut zu fallen. Doch das ist es nicht allein. Sie kümmert sich schon lange seelisch und pflegerisch um ihren Vater Norbert Denef. Der heute 75‑Jährige wurde als Kind und Jugendlicher über Jahre hinweg mehrmals wöchentlich von einem katholischen Geistlichen und einem Organisten im sächsischen Delitzsch, seinem Geburtsort, vergewaltigt und anderweitig sexuell missbraucht.
Das Leid der Angehörigen
Das zuständige Bistum Magdeburg zahlte Denef im Jahr 2005 im Rahmen einer Vereinbarung 25.000 Euro und im Jahr 2023 nochmals 30.000 Euro in „Anerkennung des Leids“. Angesichts der heute vor Gerichten erstrittenen Entschädigungszahlungen für ähnliche Fälle in Höhe von 300.000 Euro oder mehr sowie den vorliegenden Tateingeständnissen der beiden Delitzscher Täter wirken die Magdeburger Summen wie ein Witz.
Denef, der überhaupt erst im Alter von 44 Jahren imstande war, seiner Familie über sein Martyrium als Kind zu berichten, hat sich lange dafür eingesetzt, dass im Zivilrecht die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch abgeschafft wird. Denn das ist die Crux bei der juristischen Verfolgung lange zurückliegender Taten von Pädokriminalität: Wenn die Betroffenen stark genug sind, darüber zu reden, sind die Taten häufig verjährt. Nur wenn die Kirche in Verfahren auf die Berücksichtigung der Verjährungsfristen verzichtet, können Gerichte sie rechtlich zu Entschädigungszahlungen verurteilen.
Kristin Denef rückt jetzt mit ihren Brief an Bischof Feige das Leid der Angehörigen in den Fokus – und wie weit die Folgen des Missbrauchs unter Kirchendächern in Familien der Betroffenen reichen. Ihr Vater ist vor wenigen Jahren schwer an Darmkrebs erkrankt. Die Erkrankung ist in Vorsorgeuntersuchungen gut erkennbar und zu bekämpfen, doch Denef konnte sich aufgrund seiner Traumatisierung nicht untersuchen lassen. Nun hat der Krebs übergegriffen und Denef ist zum Pflegefall für Frau und Tochter geworden.
Millionenentschädigung gefordert
Er macht dafür die Kirche und das zuständige Bistum Magdeburg verantwortlich und verlangt eine Millionenentschädigung – für das erlittene Leid, die Pflege- und Therapiekosten sowie die Absicherung seiner Tochter, die inzwischen auch ihre Mutter, die vermutlich an Parkinson erkrankt ist, pflegen muss. Norbert Denef hatte den Eindruck, das Bistum wäre an einer außergerichtlichen Einigung mit ihm interessiert, sagt er. Doch zuletzt soll eine Sekretärin Denefs Anwalt am Telefon mitgeteilt haben, das Bistum fühle sich nicht mehr zuständig.
„Nach so vielen Jahren der Empörung solch eine Mitteilung, da ist es aus mir herausgebrochen“, schildert Kristin Denef gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ihre Gefühlslage beim Schreiben des Briefs an Feige, den sie mit „Jetzt reicht’s, Herr Bischof“ überschrieb.
Hier noch ein Zitat daraus: „Ich frage Sie, Herr Bischof Feige, wo waren Sie, als meine Kindheit und Jugend von den Depressionen meines Vaters überschattet wurde? Als er wochenlang verstummte, nicht mit uns sprach, weil die Missbrauchserinnerungen ihn quälten.“ Und weiter: „Meine Mutter, die meinen Vater jahrelang liebevoll gepflegt hat, ist nun selber sehr krank geworden. Sie benötigt eine 24‑Stunden-Pflege und Betreuung. Jetzt kümmere ich mich seit mehr als einem Jahr sehr intensiv um meine Eltern.“
„Sie stehen am Ende allein da“
Was das genau bedeutet, schildert sie dem Bischof ebenfalls deutlich: „‚Scheiße‘ – das Wort klingt primitiv. Doch es ist genau das, womit wir uns in unserer Familie seit dem Darmkrebs täglich beschäftigen müssen. Volle Windeln, beschmierte Vorlagen, stinkenden Pupse, Bauchkrämpfe, Durchfälle … Wo sind Sie, Herr Bischof, wenn ich meinen Vater und inzwischen auch meine Mutter pflege? Ich wechsle Windeln, wasche Hintern, bin da, wenn die Depressionen kommen, ich erlebe die Enttäuschung meines Vaters, wenn Sie sich wieder nicht rühren und uns und mich alleine lassen! Warum unterstützen Sie mich nicht?“
Mindestens 2225 Personen in der evangelischen Kirche und 3677 in der katholischen Kirche sind von 1946 bis 2014 Opfer sexueller Übergriffe durch Geistliche oder Kirchenmitarbeiter geworden. Sozialpädagogin Sabine Otto von der Betroffeneninitiative Ost sagt, von Missbrauch betroffenen Menschen falle es häufig schwer, überhaupt stabile Beziehungen zu anderen aufzubauen. Viele Partnerschaften scheiterten.
„Sie müssen das Kreuz tragen, das ihnen von der Kirche auf die Schulter gelegt wurde.“
(Sabine Otto, Sozialpädagogin bei der Betroffeneninitiative Ost)
„Angehörige von Betroffenen sind schwer damit beschäftigt, sie über Wasser zu halten oder zu retten. Kinder in solchen Familien sind davon nicht selten selbst traumatisiert.“ Dies, so Otto, werde weder von der Kirche respektiert oder anerkannt noch von Politik und Gesellschaft. „Sie stehen am Ende allein da – psychisch, physisch und auch finanziell. Sie müssen das Kreuz tragen, das ihnen von der Kirche auf die Schulter gelegt wurde.“
Die Verzweiflung Kristin Denefs, das sagt sie selbst, speist sich aus ihren Überforderungsgefühlen, die Furcht um ihre Eltern und die Angst vor ihrer eigenen Zukunft. „Wie sehr mich das Schicksal meines Vaters selbst betroffen hat, das spürte ich schon lange. Den Schaden, den merke ich jetzt. Mir fehlt die Kraft.“ Sie pendele zwischen Beruf und Elternpflege, Freizeit sei praktisch gar nicht mehr möglich, weil sie sich um ihr Einkommen kümmern muss. „Ich sehe mich in meiner Existenz bedroht“, so Kristin Denef.
Was erwartet sie vom Bischof? Zunächst einmal eine Antwort auf ihre Fragen, meint die Musikerin gegenüber dem RND. „Ich erwarte, dass die Katholische Kirche die Aufhebung der Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt vorantreibt und dass sie meinem Vater ein Schmerzensgeld in Höhe von einer Million Euro zahlt“, sagt Kristin Denef.
„Es mag mancher glauben, dass das eine vermessene Erwartungshaltung ist. Aber sollte uns die körperliche und seelische Unversehrtheit eines Menschen, und insbesondere die eines Kindes, nicht viel mehr Wert sein als manch bedeutendes Kunstwerk oder andere Luxusgüter?
Bei beschädigten wertvollen Gegenständen stellt doch auch niemand infrage, wenn hohe Entschädigungssummen gefordert werden. Und das sind nur Gegenstände.“
Faire Entschädigung würde helfen
Im Brief an Bischof Feige schreibt Frau Denef, die Entschädigung, die ihr Vater fordere, solle eine Absicherung für sie sein. „Wenn ich weniger oder gar nicht mehr arbeiten kann, weil die Pflege alle Zeit, Kraft und Geld beansprucht. Eine faire Entschädigung würde uns helfen, die ‚Scheiße‘ zu meistern“, die die Kirche verbockt hätte, indem sie den betreffenden Pfarrer nach dessen Taten insgesamt siebenmal strafversetzt hätte. „Wir als Familie tragen den Schaden und wir tragen Verantwortung füreinander und was machen Sie? Sie verweisen jetzt, nach Jahrzehnten, in denen mein Vater vergeblich versucht hat, mit Ihnen auf Augenhöhe zu kommunizieren, darauf, dass Sie nicht zuständig sind?“
Der Bischof, das verspricht Bistumssprecherin Anja Schlender in einer Antwort auf Fragen des RND, wird Kristin Denef antworten. Die Antwort wird die Frau jedoch enttäuschen. „Nach wie vor tut es Bischof Feige persönlich leid, was Herr D. durchlitten hat und mit welcher Last er sein Leben lebt. Inwiefern ein Zusammenhang zwischen seiner späteren Erkrankung und der aufgrund von Missbrauchserfahrungen abgelehnten Vorsorgeuntersuchungen besteht, kann das Bistum nicht beurteilen.“
Einen weiteren außergerichtlichen Vergleich schließe das Bistum aus, davon ausgehend, dass bereits mit der Regelung 2005, bei der Herr D. anwaltlich vertreten war, Rechtsfrieden geschlossen wurde, so die Sprecherin. „Eine erneute Forderung auf Schadensersatz bewegt sich nicht mehr im Rahmen des bisherigen niederschwelligen – lediglich auf Plausibilität beruhenden – Verfahrens zur Anerkennung des Leids und müsste darum im Zweifelsfall vor Gericht geklärt werden. Ob die Einrede der Verjährung erfolgt oder nicht, wird erst dann entschieden.“
„Ich brauche einen Lichtblick, wie es weitergehen kann.“
(Kristin Denef, Musikerin)
Die Sprecherin Feiges betont auch, dass es sich bei den Hoffnungen der Familie Denef auf eine Einigung offensichtlich um ein Missverständnis handele. „Es gab zu keinem Zeitpunkt vonseiten des Bistums ein Signal an Herrn D., einen erneuten außergerichtlichen Vergleich schließen zu wollen. Die Position des Bistums ist seit Anfang 2024 bekannt.“
Keine Lust auf warme Worte
Sozialpädagogin Otto von der Betroffeneninitiative Ost kennt dieses Muster der Kirche beim Umgang mit Betroffenen und ihren Angehörigen zur Genüge. „Wenn man die Geschichte der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche rekapituliert und den Umgang der Kirche damit bis heute beobachtet, könnte man zu dem Schluss gelangen, manche Bischöfe können ihrer eigenen christlichen Botschaft nicht glauben.“
Otto findet, die katholische Kirche mit Wohlfahrtsorganisationen wie der Caritas könnte ihre Möglichkeiten viel besser nutzen, als sie es gegenwärtig tue. „Doch sie ist in ihrem finanziellen Anerkennungssystem gefangen. Sie hat schlichtweg Angst davor, dass es für sie zu teuer wird. Ich wünsche mir, dass die Bischöfe als Erstes wie Menschen reagieren, indem sie fragen: Wie kann ich helfen?“
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