Jahrelang vom Pfarrer missbraucht: Nach Millionenklage beruft sich Bistum auf Verjährung

Der schwer an Krebs erkrankte Norbert Denef aus Scharbeutz fordert Schmerzensgeld von der katholischen Kirche. Er war als Jugendlicher jahrelang von einem Geistlichen missbraucht worden und führt seine Erkrankung darauf zurück. Das zuständige Bistum Magdeburg beruft sich nun auf Verjährung der Taten und zweifelt erstmals an den Schilderungen des 76-Jährigen.
15.05.2025, 18:09 Uhr
Berlin. Norbert Denef sagt, er ist müde. Die Schmerzen durch seine Krebserkrankung seien unerträglich. Nach mehreren Darm-Operationen ist schon lange kein normales Leben mehr möglich. Darminkontinenz und Bauchkrämpfe fesseln ihn mehr oder weniger ans Haus. „Meine täglichen Scheißereien dauern nun schon sieben Jahre lang“, schreibt er per Mail. „Ich kann nicht mehr – ich will nicht mehr leben!“
Denef weiß jedoch: Er muss. Im Alter von zehn bis 18 Jahren ist der heute 76-Jährige nach seinen Schilderungen kontinuierlich von einem Pfarrer und einem Organisten in seinem früheren Heimatort Delitzsch missbraucht worden. Der Pfarrer, der niemals kirchlich oder juristisch verfolgt wurde, ist seit 1998 tot. Der Musiker, übrigens Denefs Schwager, wurde niemals belangt.
Norbert Denef verschwieg sein Martyrium lange. Erst mit 44 Jahren konnte Denef – inzwischen Vater von zwei Kindern – nach einem Zusammenbruch das Schweigen seiner Frau Veronika gegenüber brechen. Er redete auch noch 1993 in seiner Herkunftsfamilie erstmals über den Missbrauch und sein Leid, im Beisein der Täter. Die Familie wandte sich nicht von denen ab – sondern von ihm.
Schadensersatz wegen Krebserkrankung
„Meine Frau fing mich auf“, erzählt Denef. „Meine Depressionen, meine Selbstmordgedanken, sie hielt unsere Familie zusammen. Später, nach meiner Krebserkrankung, pflegte sie mich gemeinsam mit meiner Tochter jahrelang. Ohne sie wäre ich schon tot“, sagt er. Mittlerweile ist seine Frau selbst schwer erkrankt. Multisystematrophie lautet ihre Diagnose – eine fortschreitende, tödliche Erkrankung. Denef kann sie nicht damit allein lassen.

Norbert Denef, der Anfang der 1960-er Jahre von einem Pfarrer in Delitzsch missbraucht worden war, und seine Frau Veronika. Beide sind auf Pflege angewiesen. Foto aus dem Jahr 2023. Quelle: LN
Er führt nicht zuletzt aus diesem Grund einen unerbittlich wirkenden Kampf gegen die Katholische Kirche, vor allem jedoch gegen das früher für ihn zuständige Bistum Magdeburg. 2005 erhielt Denef im Rahmen einer außergerichtlichen Vereinbarung 25.000 Euro und sollte darüber schweigen. 2023 sprach ihm die Unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leids (UKA) nochmals 30.000 Euro zu.
Denef will die Kirche jedoch nicht aus ihrer Verantwortung für das, was Geistliche wie seine Peiniger ihren Opfern angetan haben, entlassen. „Vielen ist eine gute Zukunft verbaut worden“, so der Scharbeutzer. „Es geht um Traumata, die viele daran hinderten, ihren Wunschberuf zu ergreifen oder ein Studium zu absolvieren, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Worüber jedoch kaum jemand redet, sind die körperlichen Erkrankungen, die dem Missbrauch folgen können.“
Seine schwere Krebserkrankung führt Denef auf den an ihm verübten Missbrauch zurück. Aufgrund dieser Erfahrungen habe er die notwendigen Krebsvorsorgeuntersuchungen nicht durchführen lassen können. Sein behandelnder Arzt bestätigte dies bereits 2018. Er schrieb in einem Attest von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Krebs hätte mit „sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ frühzeitig erkannt und verhindert werden können.
Es ist an der Zeit, die Schmerzensgeldbemessung für derartige Missbrauchstaten an die Fälle anzupassen, die auch heute schon höchste Schmerzensgelder auslösen. (Thomas Klaus, Anwalt von Norbert)
Bestätigt wird dies in einer dänischen Registerstudie, die vor mehreren Jahren an der Universität in Odense erstellt worden ist. Danach haben psychisch Kranke bei der Darmkrebsdiagnose oft schon fortgeschrittene Tumore und damit eine schlechtere Prognose. Sexuell traumatisierte Menschen, schrieb Denefs Anwalt Thomas Klaus an das Bistum, lehnten häufig körpernahe, ärztliche Untersuchungen ab, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden seien.
Seit Februar 2025 liegt dem Landgericht Magdeburg eine Klage Denefs gegen das Bistum Magdeburg wegen Schadensersatzes nach sexuellem Missbrauch durch einen Geistlichen vor. Streitwert: eine Million Euro. „Es ist an der Zeit, die Schmerzensgeldbemessung für derartige Missbrauchstaten an die Fälle anzupassen, die auch heute schon höchste Schmerzensgelder auslösen“, heißt es in der Begründung mit Verweis auf Schmerzensgelder für Prominente wie Altbundeskanzlers Helmut Kohl oder Wetter-Moderator Jörg Kachelmann.
Kohl war 2017 ein Schmerzensgeld in Höhe von einer Million Euro zugesprochen worden – für die Veröffentlichung von Äußerungen, die dieser unstreitig gegenüber einem Ghostwriter geäußert hatte. Durch Kohls Tod wurde dieses Urteil jedoch nicht rechtskräftig. 2016 entschied das Oberlandesgericht Frankfurt, dass Kachelmann für die Berichterstattung durch das Medienhaus Axel Springer im Zusammenhang mit dem seinerzeit gegen ihn geführten Strafprozess ein Schmerzensgeld in Höhe von 395.000 Euro erhielt.
Denefs Anwalt Klaus betont, er wolle das Kohl und Kachelmann zugefügte Unrecht nicht relativieren und anerkenne auch den vorbeugenden Charakter solcher Schmerzensgelder. Dennoch hätten diese Kläger trotz der ihnen zugefügten Verletzungen „ihr Leben unbeeinträchtigt weiterführen“ können. Es sei, so Denefs Anwalt Klaus in der Klage gegen das Bistum Magdeburg, „kein Grund ersichtlich, warum ein gleicher Präventionsgedanke für die Zuerkennung von Schmerzensgeldern im Rahmen des systematisch begangenen sexuellen Missbrauchs nicht ebenfalls Berücksichtigung finden muss“.

Magdeburger Bischof Gerhard Feige. Quelle: Ronny Hartmann/dpa
Das Bistum mit Bischof Gerhard Feige an der Spitze hatte in den vergangenen Jahren alle außergerichtlichen Einigungsgesuche Denefs abgelehnt.
2024 schrieb der Bischof dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) auf Anfrage: „Es tut mir persönlich unendlich leid, was dieser Mann durchlitten hat und mit welcher Last er sein Leben lebt. Inwiefern aber ein Zusammenhang zwischen seiner späteren Erkrankung und den aufgrund von Missbrauchserfahrungen abgelehnten Vorsorgeuntersuchungen besteht, kann ich nicht beurteilen.“
Immerhin bemühte sich Feige darum, dass sich Denef und seine Geschwister aussöhnen. 2023 schrieb der Bischof an den Bruder Denefs: „Dass Ihr Bruder von Pfarrer Kamphusmann missbraucht worden ist, steht aus unserer Sicht außer Frage. Auch einige andere Betroffene haben sich inzwischen bei uns gemeldet.“ Die Vergehen sowie das spätere Verschweigen hätten „unsägliches Leid“ ausgelöst. „Persönlich“, schreibt der Bischof weiter, „sind für mich die Straftaten von Pfarrer Kamphusmann und das Verhalten der damaligen Verantwortlichen unentschuldbar.“
Angesichts dieser Zeilen verwundert die Härte, mit der die Anwälte des Bistums nun Stellung zur Klage Denefs beziehen. Zum einen fordern sie das Gericht auf, dessen Antrag auf Prozesskostenbeihilfe abzulehnen. Zum anderen legen sie plötzlich auf Seite 2 ihres Schreibens sowie in einer später veröffentlichten Mitteilung dar, dass es sich bei Denefs Schilderungen der Missbrauchstaten durch Pfarrer Kamphusmann um eine „subjektive Schilderung“ handele, die das Bistum „vor dem Hintergrund darüber hinausgehender Erkenntnisquellen bestreitet“ und beruft sich gleichzeitig auf Verjährung.

Foto einer glücklichen Stunde. Im Mai 2024 konnte Kristin Denef für ihre Eltern Veronika und Norbert Denef einen kurzen Ausflug ins Freie organisieren. Quelle: Privat
Was denn nun? Gab es Taten, wie der Bischof noch vor zwei Jahren glasklar bestätigte und die nachweislich auch in kirchlichen Dokumenten festgehalten wurden? Oder gibt es neue Erkenntnisse, die die Schilderungen Denefs Lügen strafen? Und: Welches Signal wünscht der Bischof eigentlich zu setzen, wenn sich sein Bistum vor einem möglichen Prozess auf die – juristisch durchaus legitime – Verjährung beruft?
Denn das ist die Krux bei der juristischen Verfolgung lange zurückliegender Taten von Pädokriminalität: Wenn die Betroffenen stark genug sind, darüber zu reden, sind die Taten häufig verjährt. Nur wenn die Kirche in Verfahren auf die Berücksichtigung der Verjährungsfristen verzichtet, können Gerichte sie rechtlich zu Entschädigungszahlungen verurteilen.
Bischof Gerhard Feige verweigert dem RND mit dem Verweis auf das laufende Verfahren persönliche Antworten auf Fragen. In einer Pressemitteilung des Bistums heißt es: „Die Einrede der Verjährung ist ein legitimes juristisches Instrument im deutschen Rechtsstaat. Der Gesetzgeber hat damit bewusst Fristen geschaffen, um abschließenden Rechtsfrieden zu ermöglichen.“ Missbrauchstaten gelten nach 30 Jahren juristisch als verjährt.
Bittere Ironie der Geschichte: Denef hatte schon lange vor seiner Erkrankung gegen die Verjährungsfristen in Missbrauchsfällen gekämpft. „Letztlich schützt die Politik die Kirchen, indem sie nichts an den Verjährungsfristen ändert“, sagt er.
Ich sehe mich in meiner Existenz bedroht. (Kristin Denef, Tochter von Missbrauchsopfer Norbert Denef)
Dass es anders geht, zeigte ein Fall vor dem Essener Landgericht in diesem Jahr. Der 56-jährige Wilfried Fesselmann hatte das Bistum Essen auf Schadenersatz in Höhe von 300.000 Euro wegen sexuellen Missbrauchs durch einen Geistlichen verklagt. Das Bistum hatte von sich aus darauf verzichtet, Verjährung geltend zu machen. Sonst hätte es keinen Prozess gegeben.
Allerdings wiesen die Richter letztlich die Klage ab. Sie entschieden, dass die 45.000 Euro, die das Bistum bereits gezahlt hat, angemessen sind. Im Sommer 2023 hatte das Landgericht Köln dagegen einem früheren Ministranten in einem anderen Fall 300.000 Euro wegen Missbrauchs durch einen Pfarrer zugesprochen. In einem Fall in Aachen entschied das Gericht, dass die Kirche nicht gegen Treu und Glauben verstößt, wenn sie sich bei Missbrauchstaten auf Verjährung beruft.
Ihr Vater will das verhindern. Das Bistum Magdeburg, sagt er, verbreite wissentlich falsche Tatsachen. Verantwortlich dafür sei Bischof Feige. „Ich bin aber noch da, und ich werde kämpfen“, betonte Norbert Denef noch Ende 2024. Fünf Monate später sieht er sich am Ende – und sieht der Entscheidung des Gerichts entgegen.